Textilkunst

Textilkunst
Tex|til|kunst, die <o. Pl.>:
Kunstgewerbe, das sich mit der künstlerischen Gestaltung von Textilien befasst.

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Textilkunst,
 
Sammelbegriff für die Gestaltung mit textilem Material in allen Techniken der Stoffbildung und Stoffverzierung. Im Mittelalter Bestandteil der »artes mechanicae«, blieb die Textilkunst stets »angewandte«, zweckgerichtete Kunst. Erst in jüngster Zeit etablierte sich auch eine freie Textilkunst, die weitgehend auf Gebrauchsfunktionen verzichtet und häufig selbst die Bindung an textile Materialien und Techniken aufgibt.
 
Textile Arbeiten entstehen aus tierischen, pflanzlichen und synthetischen Fasern durch Maschenstoffbildung (Einhängen, Verschlingen, Verknoten, Häkeln, Stricken) oder durch die Verbindung von Fadensystemen (Wickeln, Binden, Flechten, Wirken, Weben), häufig in Verbindung mit stoffverzierenden Techniken wie Sticken, Nähen, Einknüpfungen, Applikationen, Durchbrucharbeiten sowie durch direkte (Bemalen, Bedrucken, Tauchen) und indirekte (Batik, Tritik, Plangi, Ikat) Färbeverfahren.
 
In Europa sind die ältesten Materialien textiler Arbeiten Flachs (Leinen) und Wolle. Ihre Verarbeitung ist seit der mittleren Steinzeit nachzuweisen (7./6. Jahrtausend v. Chr.), spätestens seit der Hallstattzeit entstanden gemusterte Wollgewebe in Spitz-, Fischgrat- und Rautenköper. Seide aus China gelangte seit den ersten nachchristlichen Jahrhunderten auf den Seidenstraßen in den Westen. Die griechische Antike kannte Wildseide aus dem westlichen Kleinasien. Hinzu kamen, ebenso aus dem Orient, Metallfäden, die die damit zunächst bestickten, später gewebten Stoffe zu begehrten Kostbarkeiten werden ließen. In Ägypten und Indien beheimatete Baumwolle wurde im Römischen Reich mit chinesischer Seide zu Halbseidengeweben verarbeitet. Seit dem 12./13. Jahrhundert gelangte Baumwolle durch die islamischen Völker über Spanien und Venedig nach ganz Europa, gewann jedoch erst in der Neuzeit größere Bedeutung.
 
Im frühen Mittelalter importierte man kunstvolle Seidengewebe v. a. aus Byzanz und dem Orient, ebenso die Techniken ihrer Verarbeitung. In Gotik und Renaissance entstanden Herstellungszentren in Spanien und Italien, im 17. und 18. Jahrhundert wurde Frankreich führend. Auch durch nachträgliches Färben verzierte Textilien gelangten aus China, Japan und Ägypten nach Europa. Nachweisbar sind Bemalungen, Reserve- und Modeldrucke, die seit dem frühen Mittelalter meist als Reliquienhüllen in westliche Kirchenschätze gelangten. Europäische Zeugdrucke sind seit dem letzten Viertel des 14. Jahrhunderts nachweisbar, überwiegend auf Leinen, seltener auf Wolle, mit Pflanzenfarben sowie in Gold und Silber ausgeführt. Häufig wurde damit die Wirkung hochwertiger Seidengewebe mit einfachen Mitteln nachgeahmt. In Seiden-, Metall-, Leinen- und Wollfäden ausgeführte Stickereien haben v. a. in Kirchenschätzen überdauert, wie überhaupt das gesamte Mittelalter hindurch kirchlichen Arbeiten die wichtigsten Zeugnisse der Textilkunst blieben. Dies gilt auch für die Bildwirkerei. Dass daneben bereits im 12./13. Jahrhundert im kirchlichen Bereich auch großformatige einheimische Knüpfteppiche entstanden, belegen für die Nachwelt weitgehend singulär gebliebene Fragmente in Halberstadt und Quedlinburg.
 
Erst in nachmittelalterlicher Zeit gewann eine für weltliche Auftraggeber (Adel und Bürgertum) gefertigte profane Textilkunst immer größere Bedeutung. Sie führte die traditionellen Techniken in der Formensprache der jeweiligen Epoche fort, wobei der überkommene Bestand nun neben hochwertigen Repräsentationsstücken zunehmend auch Gebrauchstextilien einschließt (Volkstrachten, Volkskunst). Einschneidende Veränderungen im Bereich der Textilkunst brachten die im späten 18. Jahrhundert einsetzenden Mechanisierungsbestrebungen mit sich. Mechanische Spinnvorrichtungen und Webstühle, Stick-, Strick-, Druck- und Knüpfmaschinen veränderten die textile Produktion von Grund auf. Eine Erneuerungsbewegung fand ihre Träger in den in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts in großer Zahl neu entstehenden Kunstgewerbeschulen und -museen, für die die Arbeit mit Textilien an vorderer Stelle stand. Im 19. Jahrhundert spielte das Arts and Crafts Movement eine wichtige Rolle, im 20. Jahrhundert traten u. a. der Deutsche Werkbund und das Bauhaus für die Fortführung der die Textilkunst prägenden Verbindung aus handwerklichem Können und die der künstlerischen Formensprache der jeweiligen Epoche entsprechenden Gestaltung ein. Nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr die Textilkunst eine Aufspaltung in einen mehr traditionell ausgerichteten Zweig, für den weiterhin die überkommenen Techniken und Anwendungsgebiete textiler Erzeugnisse im Vordergrund stehen, und eine freie Textilkunst, bei der Gebrauchs- und Dekorationswerte zurücktreten hinter das schöpferisch-assoziative Experimentieren mit nicht mehr notwendigerweise rein textilen Materialien, Räumen und Flächen.
 
In Schwarzafrika werden neben Raphia u. a. Bast v. a. Baumwolle, in jüngerer Zeit auch Kunstfasern, zu gewebten Textilien verarbeitet. Metalle, wie Gold, Silber, sehr selten auch Blei, integriert man zur Verschönerung des gewebten Materials in Form von Draht, Perlen oder Ähnliches in das Gewebe, v. a. in Nigeria, Ostafrika und Madagaskar. Als Veredlungstechniken sind neben der weit verbreiteten Indigofärberei verschiedene Reservetechniken beliebt, wie Abbindetechnik (Plangi, »tie-dye«) und Batik, aber auch Ikat (Baule) sowie das Besticken (Nigeria) und die Herstellung von Velourseffekten (Demokratische Republik Kongo).
 
Aus dem vorkolumbischen Südamerika sind wegen der Klimabedingungen Zeugnisse der Textilkunst v. a. aus der extrem trockenen Küstenregion Perus erhalten. Es handelt sich meistens um Totenhemden und -tücher, mit denen Mumien bekleidet oder eingewickelt waren. Obwohl mithilfe des einfachen Webgerätes (Hüftgurtwebstuhl) nur Stoffbahnen bis zu einer bestimmten Breite gefertigt werden konnten, beherrschte man nahezu alle Techniken (u. a. Schleier-, Kelim-, Doppelgewebe). Stoffe für Kleidung schnitt man nicht zu, sondern die gewebten Bahnen wurden zusammengenäht, wobei für Kopf und Arme Öffnungen blieben. Als Rohmaterialien dienten Baumwolle, Lama-, Alpaka- und Vikunjawolle. In der späten Inkazeit durfte man Vikunjawolle nur für die Kleidung des Herrschers verwenden. Nicht nur die natürliche Farbunterschiede der Materialien, sondern auch Färbetechniken (rd. 190 Farbtöne) wurden genutzt. Die Musterung der Gewebe erfolgte durch Einweben, Broschieren, Ikat und Bemalen sowie durch Besticken. Motive sind Mischwesen, dämonenartige Gottheiten und Fabelwesen, diverse Tiermotive und geometrische Muster. Die hochwertigsten und schönsten Werke der Textilkunst stammen aus der Paracaskultur.
 
Aus Mesoamerika sind zwar kaum alte Textilien erhalten, aber in Mexiko und Guatemala greift heute die Volkskunst der Indianer mit Weberei und Stickerei auf alte Traditionen zurück.
 
In Nordamerika gehören zu den besten Arbeiten der Textilkunst: bei den Nordwestküstenindianern die Chilkatdecken und die »button blankets« (mit Mustern aus aufgenähten Perlmuttknöpfen verzierte Tücher); bei den Navajo gewebte Decken; mit Stickerei, Applikationen und Quillwork verzierte Kleidungsstücke und Gebrauchsgegenstände vieler anderer Stämme.
 
In Ozeanien dominieren mehrfarbige, in der Verzierung Schachbrett- und Linienmuster kombinierende Maschenstofftaschen (v. a. Nord- und Zentral-Neuguinea, dort auch mit Fäden, die mit hellen Orchideenstreifen umwickelt werden; ferner Australien) sowie geflochtene oder gewobene Matten mit geometrischen Mustern (Mikronesien, Ost-Melanesien, Polynesien); ferner Tapa. Lokale Spezialitäten sind die Perlenstoffe (Prunkschurze) der Admiralitätsinseln, die mit Federn verzierten Schulterumhänge aus Hawaii und Neuseeland sowie die aus dem Zwirnbinden abgeleitete effektvolle »taaniko«-Ziertechnik der Maori mit mehrfarbigen Zickzack-, Dreieck-, Rauten- und Spiralmustern.
 
 
M. Dreger: Künstler. Entwicklung der Weberei u. Stickerei. .., 3 Tle. (Wien 1904);
 E. Flemming: Textile Künste (1923);
 E. Flemming: Das Textilwerk. Gewebe von der Spätantike bis zum Anfang des 19. Jh.. .. (Neuausg. 1957);
 B. Kurth: Die dt. Bildteppiche des MA., 3 Bde. (Wien 1926);
 O. von Falke: Kunstgesch. der Seidenweberei (Neuausg. 41951);
 B. Menzel: Textilien aus Westafrika, 3 Bde. (1972-73);
 F. Anton: Altindian. T. aus Peru (Neuausg. 1984);
 
Il tessuto. Disegno, moda, architettura, Beitrr. v. G. Fanelli u. a., 2 Bde. (Florenz 1986);
 M. Flury-Lemberg: Textil-Konservierung im Dienste der Forschung (Bern 1988);
 
Von Morris bis Memphis, bearb. v. H. Wichmann (Basel 1990);
 
Traditionelle ind. Textilien, Beitrr. v. J. Gillow u. N. Barnard (a. d. Engl., Bern 1991);
 A. Seiler-Baldinger: Systematik der textilen Techniken (Neuausg. 1991);
 L. von Wilckens: Die textilen Künste. Von der Spätantike bis um 1500 (1991);
 L. von Wilckens: Gesch. der dt. T. (1997);
 
Textiles d'Égypte de la collection Bouvier. Textilien aus Ägypten aus der Slg. Bouvier, bearb. v. A. Stauffer, Ausst.-Kat. Musée d'Art et d'Histoire, Fribourg (Bern 1991);
 
Bauhaus-Textilien. Kunst u. Künstlerinnen der Webwerkstatt, bearb. v. S. Wortmann Weltge (a. d. Engl., 1993);
 
LebensMuster. Textilien in Indonesien, Beitrr. v. H. Leigh-Theisen u. R. Mittersakschmöller (1995);
 
Textile arts of India, bearb. v. K. Hatanaka (San Francisco, Calif., 1996);
 Wolfgang Müller: Textilien. Kulturgesch. von Stoffen u. Farben (1997).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Paracas: Höhepunkt andiner Textilkunst
 

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Tex|til|kunst, die <o. Pl.>: Kunstgewerbe, das sich mit der künstlerischen Gestaltung von Textilien befasst.

Universal-Lexikon. 2012.

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